Anhaltisches Theater Dessau

 

DER RING DES NIBELUNGEN

 

Erste Opernfreundkritik

 

13.-17.5. 2015

 

Ein Video-„Ring“ mit Licht und Schatten

 

Natürlich sind die Dessauer pfundsstolz auf ihren „Ring“ - den sog. „Bauhaus-Ring“, falls solche Schlagworte Sinn machen. Vor über einem halben Jahrhundert war das letzte Mal die Tetralogie am Anhaltischen Theater zu erleben, nachdem die Richard-Wagner-Festwochen der 50er Jahre den schon aus dem 19. Jahrhundert stammenden Ruf der Stadt als eines „Bayreuth des Nordens“ nachhaltig befestigten – doch seitdem wurde es still um Wagners Hauptwerk. Zu groß, zu komplex, zu teuer – mit diesen Problemen musste sich nicht allein die lokale Theaterkultur der DDR herumschlagen. Erst 2011 wurde das Ross mit der „Götterdämmerung“ - zumindest kompositionsgeschichtlich – von hinten aufgezäumt; es folgten die weiteren drei Teile im Krebsgang, und nun, nicht zufällig zum Wagner-Kongress, wurde der erste von nur zwei Zyklen ins große Haus gebracht. Ein zweiter wird im Juni folgen; es wird der letzte sein. Ob und wann jemals der „Ring“ wieder in Gänze am Anhaltischen Theater zu erleben sein wird, ist völlig unklar; die örtlichen Nornen munkeln, dass, soweit es den „Ring“ betrifft, die Endzeit bereits angebrochen ist. Krise ist immer, nicht allein in Wotans und Alberichs Welt.

 

Und also kann das Haus stolz sein auf ein Unternehmen, das sich selbst im Opernland Deutschland, das immer noch über knapp 90 Opernhäuser und nicht wenige „Ringe“ (selbst an kleineren Häusern wie Minden) verfügt, nicht von selbst versteht. Kommt hinzu, dass der Lokalpatriotismus auch durch die spezifische Gestalt dieses „Ring“ angestachelt wird: mit den Bildwelten schon der „Götterdämmerung“ bezog man sich überdeutlich auf das Bauhaus, das in Weimar immer noch besichtigt werden kann. Es gehört aus guten Gründen zum „Weltkulturerbe“, dessen Prinzipien werden immer noch, wenn auch modifiziert, in der modernen Architektur beachtet. „Wagner strebte“, heißt es im ergänzenden Programmheft der Gesamtproduktion, „im Gesamtkunstwerk eine Synthese der Künste an. Für Walter Gropius war der Bau der Zukunft ein Gesamtkunstwerk. Dessau als Ort der klassischen Moderne ist für die Aufführung des 'Ring' wie geschaffen.“ Die Behauptung ist reizvoll, und dass man stolz darauf sein kann, eine „unglaubliche gemeinsame Kraftanstrengung bravourös“ gemeistert zu haben: diesem emotionalen wie berührenden Ausruf muss, wenn man Alles in Allem betrachtet, nicht widersprochen werden.

 

 

Nun ist in den Grußworten des (übrigens sehr schön gestalteten) „Ring“-Programmheftschubers auch die Rede davon, dass Dessau durch diese Aufführungen den Ruf als „Bayreuth des Nordens“ wieder einmal eindrucksvoll belegt habe. Udo Bermbach – einst so etwas wie ein Chefdenker des Bayreuths der 90er und 00er Jahre – behauptet sogar, dass dieser „Ring“ „in der bewundernswerten Qualität von Sängern, Sängerinnen und Orchester einen eigenen Rang“ unter den „Ringen“ des Wagner-Jubeljahres 2013 einnehme, ja: dass er sogar Frank Castorfs (zurecht umstrittenem wie frag-würdigem) Bayreuther „Ring“ konzeptionell weit überlegen sei. Darüber kann man lange diskutieren; es werden sich Gründe für wie gegen Castorfs Arbeit finden lassen wie die Arbeit des Dessauer Teams mit den selben Gründen bezweifelt oder gelobt werden kann. Es ist fraglich, ob derartig polemische Standortbestimmungen in ein Programmheft der Produktion selbst gehören. Nimmt man sie Ernst – denn Bermbach ist ja ein ausgesprochener „Ring“-Kenner -, dann muss sich die Dessauer Produktion an den Selbstaussagen messen lassen.

 

Wieder kommt es auf den Standort an. Kein Kritiker ist „objektiv“, kein Theatermacher kann den totalen Wahrheitsanspruch verteidigen. Was also hören wir?

 

Wir hören ein hervorragend eingespieltes, zwei bis drei Abende lang sensibel interpretierendes Orchester, das unter dem scheidenden GMD Antony Hermus die schönste Kammermusik macht – und an den „großen“ Stellen den Schönklang, die lyrische Linie, die Gewalt der wagnerschen Tonsprache selbst dort nicht dem Bombast opfert, wo es angebracht sein könnte: im Einzug der Götter und im Walkürenritt. Wieder entdeckt man Stimmen, die man nie wahrgenommen hat, womit nicht die unvermeidlichen, den unglaublichen Anstrengungen eines drei pausenlose Tage durchspielenden Orchesters geschuldeten Misstöne gemeint sind. Hermus schert sich nicht um die akademische Debatte, die einst ausbrach, als es 1976 darum ging, Pierre Boulez aus dem Bayreuther Orchestergraben und vom Grünen Hügel zu vertreiben: jede Stimme ist hier wichtig. Wagners Orchestergewebe schillert vielfältig; die schönsten „Nebenstimmen“ - die keine sind – werden vernehmbar. Am dritten Abend wäre es vielleicht möglich gewesen, das Orchester konzentrierter zu zügeln, aber wo Jürgen Müller – als Siegfried – auf der Bühne steht und ein Dauerforte produziert, muss der Dirigent keine Rücksicht nehmen. Unwahrscheinlich, dass Müllers vokale Präpotenz dem ungezügelten Orchester zu verdanken ist, wer ihn einmal anderswo gehört hat, wird bestätigen, dass diese stimmliche Auffassung auf die Dauer den Ohren und Nerven nicht sonderlich gut tut.

 

Was entschädigte dafür? Die zerbrechliche Schönheit der Musik der aufkeimenden Liebe Siegmunds und Sieglindes, das zauberhafte Waldweben, der große Bogen von Wotans und Loges Feuermusik, die Schattierungen im ersten Duett Siegfrieds und Brünnhildes – und das heiter parlierende Tempo des gesamten, bewusst komödiantisch aufgefassten „Rheingold“, vor dem die goldenen Töne des Rheingoldstrahlens und die dunklen der Erda-Warnung umso deutlicher schimmerten. Ja, man machte hier meist das das, was Richard Strauss einst von jedem Musiker forderte: Mendelssohnsche Elfenmusik – und man hörte, dass der Wagner zumindest des „Rheingold“ - glücklicherweise - noch mit ein paar Fasern in der Welt des großen, klassizistischen Romantikers Mendelssohn zuhause war. Schön und richtig also, dass nach jeder Aufführung – und nicht erst nach der „Götterdämmerung“ - das gesamte Orchester der Anhaltischen Philharmonie Dessau den völlig berechtigten, jubelnden Applaus auf der Bühne abholte. Nebenbei: es dürfte kaum ein deutsches Opernorchester existieren, das sich derart als Ensemble empfindet, dass die Musiker zugunsten einiger erhaltenswerter Stellen auf nicht wenige Prozente ihres Einkommens verzichteten. Respekt!

 

 

Respekt auch für die ungeheure Leistung, die ein Sänger vollbringt, der drei Tage hintereinander als Wotan und Wanderer auf der Bühne steht. Ulf Paulsen wurde kurz vor seinem Auftritt als „Walküre“-Wotan zum Kammersänger ernannt. Er steht die Monsterpartie(n) beeindruckend durch – aber er hat eine seltsame, nicht besonders schöne Angewohnheit. Er stemmt, nicht allzu selten, sich in viele Töne hinein. Er schleift sie kurz an und springt, beispielsweise auf das „Waheib“, wie auf einen Zug. Der Rezensent ist sicher: Ulf Paulsen könnte sich das abtrainieren; dass er aufgrund seines hellen, jugendlich grundierten Bassbaritons als Wanderer weniger überzeugend wirkt denn als „junger Gott“ darf nur der kritisieren, der ein anderes Ensemblemitglied nennen könnte, das bereit wäre, die drei Partien mit Würde zu bestehen.

 

Vollkommen agiert Angelina Ruzzafante. Sie ist eine Sieglinde von hohen Graden. Mit ihrer reinen wie artikulatorisch äußerst sauberen Stimme gestaltet sie die Partie berückend; gelegentlich interessiert man sich sogar für diese Figur, die ihren Gesang rein liedhaft ausströmen lässt (was mit Wagners Musikdramaturgie schon der „Walküre“ schön harmoniert). Dass man es wenig tut, liegt nicht an ihr, sondern an der Personenführung, aber dazu später. Frau Ruzzafante ist auch eine wunderbare Freia und ein Waldvogel, wie man ihn selten hört: lupenrein, lyrisch beseelt, scheinbar mühelos durch die Lüfte der Musik segelnd. Dass der Rezensent ihre Gutrune hier nicht würdigen kann, liegt daran, dass er schon vorher den Zug nach Bayreuth nehmen musste – aber schon 2011 hat sie ihn während der Premiere des Schlusssteins der Tetralogie entzückt.

 

Die zweite Goldene Palme müsste sich in diesen Tagen ein tiefschwarzer Bass – der als Fafner neben Freia wirklich wie ein Riese wirkt – mit einer noblen Fricka teilen. Stephan Klemm ist kein Mickerbass, sondern ein voluminöser, herrlich schwarzer Bass in der Tradition Gottlob Fricks, und Rita Kapfhammer bietet als „Rheingold“-Fricka das überzeugende Porträt einer Göttin im hauslichen Morgenrock: zutraulich gurrend, selbstbewusst, stolz. Dass Frau Kapfhammer als „Walküre“-Fricka einen wesentlich aufgeregteren, um nicht zu sagen: hysterischeren Ton in die Debatte bringt, muss nicht jedem Hörer gefallen. Vermutlich ist diese Stimminterpretation auf die gewandelte Auffassung der Figur zurückzuführen. Rita Kapfhammer singt einfach anders, wenn sie, schauspielerisch betrachtet, einen anderen Typus in die Stimme bringen muss.

 

Ähnlich mag es Stefan Adam gehen, der zunächst einen wenig profilierten Alberich zu machen hat. Erst in den Augenblicken der höchsten Erregung zeigt auch der Sänger als Schauspieler, wie er seiner Stimme Charakter geben kann: in den Welten Nibelheims. Im „Siegfried“ hat er dann – woran auch seine Maske schuld ist – kaum noch eine Möglichkeit, neben Mime allzu sehr aufzufallen. Mime aber ist im „Rheingold“ noch der Sänger des Loge: der gute Albrecht Kludszuweit. Wie Stephan Klemm, der einen ganz glänzenden, scharf gezeichneten Hunding auf die Bühne bringt, ist Kludszuweit ein Sänger, der auch mal schauspielerisch singt: was gewiss im Sinne Wagners sein dürfte. Loge gehört, wie Hunding und die hübsche wie vornehme Erda der stimmlich erhabenen wie schönen Anja Schlosser (die in einem wunderbaren, stilisierten Damenreitkostüm der Wagnerzeit auftritt) – Loge also gehört zu den ganz wenigen Figuren dieses „Ring“, die mich an diesen Abenden wirklich interessierten: und dies auch und vor allem, weil sie das, was die Szene ansonsten an gestischer Deutlichkeit und Interessantheit vermissen ließ, auch mit vokalen Mitteln ausdrücken konnten.

 

 

Und Siegmund? Er holte sich, zweifellos unberechtigt, ein paar Buhs von oben rechts ab – ein Affront, den Robert Künzli seinerseits mit einer heftigen Geste beantwortete. Sie ist verständlich, wenn auch sein Siegmund eher im Lyrischen als im ungesichert „Heldenhaften“ zuhause ist. Meckern wir nicht: neben dem auf Dauerforte geschalteten Siegfried ist Künzlis Siegmund ein Wunder an Differenziertheit – aber auch hier vermochten sich nicht alle Zuschauer auf Siegmund selbst zu konzentrieren, weil die Regie und die überbordende Technik immer wieder – und höchst erfolgreich – daran arbeiteten, den Blick von den singenden Menschen auf die Projektionen zu lenken.

 

Bleibt Brünnhilde, die mit Iordanka Derilova eine interessante Vertreterin gefunden hat: ein kleine, schlanke Frau mit einem großen Organ, das stark tremoliert. Geschmackssache – auch Evelyn Herlitzius hat ja Freunde und Gegner, und bekanntlich war auch die große Birgit Nilsson aufgrund ihres unverwechselbaren Organs nicht ganz unumstritten (was nicht als Vergleich mit der Dessauer Kammersängerin gelesen werden darf). Frau Derilova gestaltet die Partie jedenfalls mit dem Anspruch, genau zu sein; die Erweckungs-Szene mit Siegfried gerät jedenfalls zu einem musikalischen Höhepunkt, und dies auch, weil sich die Video-Regie hier relativ zurückhielt.

 

Die Regie also! Man müsste diesen „Ring“ vielleicht weniger als „Bauhaus“-Ring denn als „Video“-Ring bezeichnen. Dass sich das Stilmittel mit zunehmendem Einsatz abnützt, muss als technikkritisches Argument schon deshalb gesagt werden, weil viele Zuschauer den Totaleinsatz des digitalen Mediums weniger als bewusstseinsfördernd denn als optische Überforderung empfanden. Im Dessauer „Ring“ geht es, wie man's im „Rheingold“-Programmheft nachlesen kann, „um die Macht der Bilder, um den Wert der Information“. „Information“ definiert sich aber auf der Bühne weniger als Nachrichtenübertragung denn als Vergnügungsindustrie. Das Gold ist also kein greifbares Ding einer verarbeitenden, geldproduzierenden Industrie (wie Castorfs Öl), sondern ein materiell-immaterielles Medium. Abgesehen von den furchtbaren historischen Pressebildern, die jeder Zuschauer zur Genüge kennt, und die in jenem schockhaften Moment eingeblendet werden, in dem Alberich seinen Fluch ausstößt, erscheint „Information“ über weite Strecken dieses „Ring“ als Jahrmarktsspektakel, früher Zeichentrickfilm, Hollywood-Melodram und digitales Spielzeug.

 

 

Kritische Motive werden dadurch von vornherein aufs Geleise des eher Neckischen geschoben: die beabsichtigte Ideologiekritik an den Medien, deren Weg im „Rheingold“ bei den antiken Schriften und Kunstwerken beginnt (mit denen die Zuschauer bombardiert werden), bleibt über weite Strecken an einer Unterhaltungsindustrie kleben, die die Inszenierung selbst überbordend bedient. Dass die Kunstwerke der Renaissance, des Barock und der Moderne für das gerade aufleuchtende Rheingold einstehen müssen, das seine Gestalt in jenem (verkleinerten) Kubus gefunden hat, der dann als (riesiger) Allzweckkubus durch die Inszenierungen wandert, ist zumindest seltsam – und vom Wesentlichen der Szene extrem ablenkend. Wenn man im zweiten „Walküre“-Akt plötzlich ein Filmteam an der Arbeit sieht, das die „Story“ des Liebespaares – optisch durchaus „interessant“ - auf die Leinwand wirft, muss die digital erzeugte Kopie für die Originale einstehen, von denen wir uns längst abgewandt haben.

 

Wer dies nicht als Problem der grundsätzlichen Ästhetik dieser Inszenierung wahrnimmt, deren Praxis einen wichtigen Satz im „Siegfried“-Programmheft ad absurdum führt, dürfte allerdings mit den Videos sehr glücklich sein. Es bestünde, sagt Sophie Walz in Zusammenhang mit den Videospielen, mit denen Siegfried, auch bei der extrem undramatischen, ja: postdramatischen Schwertgewinnung beschäftigt ist, auf dem Theater „keine Gefahr einer Verwechslung von Fiktion und Wirklichkeit“. Wäre es wirklich so, würden sich nicht so viele Zuschauer über die seltsamen digitalen Strategien ärgern, mit denen die Videographen Frank Vetter und Michael Ott die Grenze zwischen dem Spiel und dem Spiel im Spiel extrem verwischen. Eine Zuschauerbefragung hätte vermutlich auch ergeben, dass sie noch nie so desinteressiert an der Figur des Siegfried waren wie an diesem Abend. Das macht: die Verzicht auf eine handwerklich gediegene Personenregie zugunsten eines enormen technischen Einsatzes.

 

Beginnend mit den Projektionen wild rotierender Zoetrops (vulgo: „Wundertrommeln“) im „Rheingold“ - ein Bewegungsapparat des 19. Jahrhunderts, der im Bühnenbild wiederkehrt (die Rheintöchter stehen und wandeln da übers sich drehende, gleichsam kinetische Objekt) -, endet's im Flimmern abgebrochener Datenströme in der „Götterdämmerung“. Die Esche ist demgemäß ein abgeschnittenes Kabelende, in dem absurderweise das Schwert steckt. Selbst, wenn man nicht auf irgendwelchen „realistischen“ Theaterbildern beharrt, bleibt Udo Bermbachs Interpretation des „Kabelbaums“ seltsam kopflastig: „Ein Bild, das die Verselbständigung moderner Massenkommunikationsmedien eindrucksvoll versinnbildlicht und das klar macht, dass eine daraus bezogene Lösung – das Schwert Nothung – nicht geeignet ist, die fundamentalen menschlichen Probleme derer, die sich wirklich Lösung erhoffen, auch wirklich zu lösen.“

 

Im Grunde des nicht vorkommenden Rheinstromes ist diese Inszenierung – über Datenströme – eine Dramaturgeninszenierung, bei der das Gedachte wesentlich sinniger und eindrucksvoller erscheint als das, was schließlich auf der Bühne zu sehen ist. André Bücker, sein Dramaturg Felix Losert und die Videographen verweisen mit Stolz darauf, dass für diesen „Ring“ 670 Meter Videokabel verlegt und 300 Videoeinsätze gefahren wurden, dass in der Videoinszenierung rund 7200 Arbeitsstunden und etwa 1000 Stunden für die Programmierung der Video-Server steckten, „mit dem bis zu 35 Video- und Grafikspuren auf bis zu sechs Videoprojektoren zugespielt wurden“. Meine Mutter hätte gesagt. „Was zuviel ist, ist zuviel“, vielleicht liegt die latente Überforderung der Zuschauer auch am Generationsproblem. Ich weiß jedoch nicht, was die Wagnermedienpäpste Johanna Dombois und Richard Klein zu dieser Technikmanie sagen würden – aber ich vermute, dass sie das Gigantomanische des Aufwands eher als problematisch empfinden würden. Ich würde nicht gleich von Technikfetischismus reden, aber das Übermaß der eingesetzten Mittel verdeckt eher die beabsichtige Medienkritik als dass es sie befördern würde. Dass das Theater immer mit ausgesprochen viel Technik gemacht wird, die man auch zeigen kann (aber auch das ist inzwischen nicht mehr originell), ist trivial – dass sich an wesentlichen Stellen dieses „Ring“ die Technik an die Stelle setzt, die für die Aufmerksamkeit für das Drama reserviert sein müsste und viele Effekte im pädagogisch Verdoppelnden (wie in Alberichs Fluch oder beim „Game over“ bei Mimes Tod) angesiedelt sind: dies ist das grundsätzliche Problem dieser Arbeit. Wenn ein Siegfried-Sänger eine gute Viertelstunde fast bewegungslos am Platz steht und per Computertechnik ein „Schwert schweißt“, mag das im Sinne des aktualisierenden Konzepts völlig logisch sein – dramatisch ist es spannungslos.

 

Wenn erst im zweiten „Walküre“-Akt die Geschichte Siegmunds und Sieglindes als Hollywoodfilm inszeniert werden soll, stimmt's nicht zum ersten Akt – und wenn Alberichs Hort in der Produktion von Trickfilmen der späten 20er Jahre besteht, während wir gleichzeitig auf Experimentalfilme der Weimarer Republik schauen, begreift der Zuschauer die Handlung nicht mehr. „Die Bilder führen ein Eigenleben in dieser Bühne“, freut sich der Bühnenbildner Jan Steigert. Ja, eben. Abrieb muss sein, wenn Wagner in irgendein Heute geholt werden soll, ja muss – aber zuviel Abrieb tut nicht gut. Das dürfte sogar ein Siegfried wissen, der das Fürchten vor „neuen Konzepten“ nicht kennt. Konzepte aber können auch mal, so intelligent sie sich auch lesen, theatralisch scheitern.

 

Nun würde man allerdings lügen, würde man nicht auch Schönes an der Optik dieses „Ring“ bemerken. Die Nähe zum Bauhaus – das übrigens nicht als heilige Kuh betrachtet wird, auch nicht in diesem „Ring“ - schafft ein paar klare Bilder: der ausfaltbare Kubus, der als Walkürefelsen schönste blockhafte Wirkung macht und schwarz schimmert; der Wolkennebel Walhalls; die tänzelnden Trottel der „kleinen“ Götter in ihren weißschimmernden Kostümen, besonders aber Fafners Präsenz im „Rheingold“ und im „Siegfried“ (eine Arbeit der Kostümkünstlerin Suse Tobisch). Dass Fafner im „Siegfried“ in seinem schwer symbolischen wie wunderbar dekorativen Gestäbe nur stehen und langsam laufen, aber niemals „liegen“ kann: geschenkt. Wotan als Tycoon im Stile des einäugigen Fritz Lang, doch weniger schön als auffallend (und beifallprovozierend): das Plüschpferdchen der „Filmstudentin“ Brünnhilde, die Papas Film, warum auch immer, zu Ende inszenieren soll. Logischer wäre es gewesen, einen erfahrenen Producer wie Cecil B. De Mille einzustellen statt ein unerfahrenes Mädchen auf den Regiestuhl zu setzen, aber das nur nebenbei. Eher ridikül: die denkbar unblutigen Konsumpüppis, die Walküren – wenn ein Vergleich mit Castorfs „Ring“ statthaft ist, dann hier: in Bayreuth stehen wirklich gestandene Kampfweiber auf der Bühne, in Dessau Anti-Walküren, die sich mit koksenden Stadtmatrosen vergnügen.

 

Der „Walküre“-Film ist, samt Blick auf das nächtlich illuminierte Hollywood, den Rocky Mountains und dem Mount Rushmore (eine durchaus nicht geheime Hommage an Castorfs „Ring“, durchaus schön – aber reichen „schöne (Film-)Bilder“, um das „Ring“-Drama ins Heute zu bringen? Genügt es, die „Siegfried“-Geschichte mit Begriffen von Computerspielen zu kommentieren? Auf welchem „Highscore“ befindet sich der Zuschauer, wenn er das Horn (zugegeben: man läuft heute nicht mehr mit Hörnern durch die Gegend, allerdings auch nicht mit Schwertern und Speeren...) am 3-D-Drucker produziert? Ist Siegfrieds Welt wirklich eine SPIEL-Welt? Ist Siegmunds und Sieglindes Geschichte wirklich eine Film-Geschichte?

 

Aber der Waldvogel! Angelina Ruzzafante steckt in einem wunderbaren Kostüm, das an Oskar Schlemmers Kostüme des „Triadischen Balletts“, das auf der Bauhaus-Bühne uraufgeführt wurde erinnert: ein kinetisches Licht-Objekt – in dem man sich halt nur so streng und sicher bewegen müsste, wie Schlemmer sich das vorgestellt hat. In der „Götterdämmerung“ spielt László Moholy-Nagys „Licht-Raum-Modulator“ eine Rolle. Der Wanderer sitzt im Buddhasitz (eine bewunderungswürdige Leistung) – und Siegfried war mal wieder um die Ecke einkaufen. Auch so kann man Wagner in eine Art Gegenwart holen – doch müssten nicht dramaturgisch unabdingbare Grundinformationen (wie der Gegensatz von „Kultur“ bzw. „Zivilisation“ und „Natur“) Ernst genommen werden, wenn die Geschichte zumindest in ihren Grundzügen funktionieren soll? Allen „schönen“ Bildern zum Trotz?

 

Fragen über Fragen. Dass der „Ring“, als künstlerisches Gesamtereignis, von den Dessauern und den vielen Besuchern des Wagnerkongresses am Ende der einzelnen Abende einhellig gefeiert wird, ist angesichts des Kraftakts verständlich. Da versagt denn doch jede Beckmesserei – und dass die Welt immer noch Wagners Welt ist: eine Welt des „Neids“, das hat am Ende der Kongress selbst bewiesen, auf dem der amtierende Vorsitzende des Wagnerverbandes International, Thomas Krakow, in einer Kampfabstimmung abgesetzt wurde. Ein unerhörter Paukenschlag, gegen den das Donnergrollen Wotans wie ein mildes Lüftchen klingt. „Wisst Ihr, wie das wird?“ Der gemeine Wagnerianer muss mutmaßen: Nicht besser. Die Oper, wie sie nun auch in Dessau – was schon eine Art Theaterwunder ist – auf die Bühne kam, ist da wirklich nur ein Spiel, dem man mit allzu kritischen Betrachtungen vermutlich nicht nahe kommt.

 

Meckern wir nicht: dass der „Ring“ „noch einmal“, wie Brünnhilde am Ende so elegisch singt, am Anhaltischen Theater möglich war, stellt – aller Kritik zum Trotz - dem Haus und damit allen Abteilungen das beste Zeugnis aus.

 

Frank Piontek, 17.5. 2015

 

Produktionsbilder: Anhaltisches Theater Dessau / Claudia Heysel

 

 

 

 

 

DER RING

 

Zweite Opernfreundkritik

 

Standing Ovations für scheidenden Intendanten

 

Das Buch "Walküre in Detmold" von Ralph Bollmann aus dem Jahr 2012 hatte bei mir – bis dahin eher als großstädtisch-wienerischer Opernbesucher zu bezeichnen – das Interesse an deutschen Klein- und Mittelbühnen geweckt. Und bei meinen anschließenden Reisen durch die Lande wurde ich nur selten vom Gebotenen enttäuscht. Das "Herzblut" an diesen meist mit enormen finanziellen Problemen kämpfenden Häusern ersetzt das Engagement so manchen glamourösen Gastsängers spielend. Auch die Unterschiedlichkeit und Vielfältigkeit Deutschlands lernt man dabei kennen. Schon Bollmann lieferte ja nicht nur ein Kompendium der Opernhäuser, sondern ging auch auf die historische Entwicklung der Regionen und die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge ein. Und da sind wir gleich mitten drin, was meinen 650-Kilometer-Ausflug nach Sachsen-Anhalt, genau genommen in die Bauhaus-Stadt Dessau (oder eigentlich Dessau-Roßlau, wie sie seit acht Jahren heißt) betrifft.

 

 

Hier wagte der scheidende Intendant André Bücker (über den nicht ganz freiwilligen Abgang des seit 2009 diesen Posten innehabenden Regisseurs gibt es zahlreiche Interpretationen, bei denen die verantwortlichen Politiker allesamt nicht gut wegkommen, was aber nicht Gegenstand dieser Zeilen sein soll) erstmals seit 50 (!) Jahren wieder eine Aufführungsserie von Richard Wagners "Ring des Nibelungen". Eigentlich erstaunlich, dass es im "Bayreuth des Norden", wie Dessau auch gerne bezeichnet wird, dafür so lange gedauert hat. Aber mit einem Haus in der Größe des Anhaltischen Theaters war es mit dem Aufkommen Ost-Berlins in der DDR-Zeit und den späteren ökonomischen Zwängen wahrlich nicht leicht, dieses Riesen-Projekt zu stemmen. Bücker wagte es dennoch und suchte Unterstützung in der Wirtschaft, allein mit der öffentlichen Finanzierung (und das Thema der Kultursubventionen ist speziell im Osten ein äußerst brisantes) wäre eine Realisierung wohl nicht möglich gewesen.

 

Dessau, wie oben erwähnt, als "Bayreuth des Nordens" zu bezeichnen ist durchaus zulässig, denn das Theater kann hier auf eine über 150-jährige Wagner-Tradition zurückblicken. Am 20. März 1857 ging mit "Tannhäuser" erstmals ein Wagnersches Werk über die Bühne des damaligen Herzoglichen Hoftheaters. Zahlreiche persönliche Besuche von Wagner gipfelten darin, dass der Meister 1872 persönlich nach Dessau reiste, um für seine Festspielidee zu werben. Hans Knappertsbusch, der in den 1950iger Jahren die prägende Dirigentenpersönlichkeit in Wieland Wagners "Neu-Bayreuth" werden sollte, wirkte hier von 1919 bis 1922 als Generalmusikdirektor, wo er auch eine Neuinszenierung des Rings dirigierte. Das 1938 in Anwesenheit von Adolf Hitler eingeweihte heutige Bühnenhaus (dessen 1072 Plätze erst einmal gefüllt werden wollen) war von vornherein auch als Wagner-Theater konzipiert – und mit allen entsprechenden ideologischen Erwartungen der Bauherren belastet. Unter Intendant Willy Bodenstein avancierte es in den 1950iger Jahren – zu einem Zeitpunkt, als die Staatsoper Berlin, die Dresdner Semperoper und die Oper Leipzig noch in Trümmern lagen – zur führenden Wagner-Bühne der DDR.

 

Die Realisierung der aktuellen Aufführungsserie (die original den Namen "DER RING DES NIBELUNGEN in der bauhausstadt dessau" trägt) ging man in zeitlicher Hinsicht genau so an, wie Wagner historisch komponiert hatte – von hinten nach vorne! Im Mai 2012 feierte also die "Götterdämmerung" Premiere, heuer gab es im Jänner mit dem "Rheingold" den Abschluss. Der allererste zusammenhängende Zyklus stand nunmehr vom 13. bis 17. Mai 2015 auf dem Programm, im Juni folgt noch eine Reprise. Was dann passieren wird, steht derzeit noch in den Sternen. Die finanziellen Einsparungen der öffentlichen Hand lassen befürchten, dass es der letzte Dessauer Ring gewesen sein könnte, auch wenn Bücker und sein Team zum Abschied noch ein Sparkonzept entwickelt hatten, dass den Bestand als Vier-Sparten-Theaters sichern soll. Die vier von mir besuchten Abende standen unter ganz besonderer Beobachtung: Zur gleichen Zeit fand nämlich der Internationale Richard-Wagner-Kongress statt, der über 300 Fachleute aus der ganzen Welt hier versammelt hatte.

 

In diesem Konnex ist natürlich eine Auseinandersetzung mit Wagners Hauptwerk eine besondere Herausforderung, zumal sich in Dessau auch die historischen Brüche des 20. Jahrhunderts in extremer Weise spiegeln. Diesem Gedanken folgte auch Bücker und sein Team. Sie betrachteten das Werk mit besonderer Berücksichtigung der "Klassischen Moderne", die vor allem während der Bauhaus-Jahre 1926 bis 1932 hier Gestalt gewann. Mit ihrer Synthese der Künste verfolgten die Bauhaus-Meister ja ein Ziel, das auch Wagner in seinem "Gesamtkunstwerk" erreichen wollte. Der Dessauer Intendant setzte alles daran den "genius loci" der Bauhaus-Künstler einzubeziehen und auch wenn nicht alle Anspielungen für jedermann erkennbar waren (etwa das Triadische Ballett Oskar Schlemmers oder die besondere Funktion des Bühnenlichtes im Sinne von Adolphe Appia), so überzeugte diese Sicht. Mit den Inszenierungen Wieland Wagners im "echten" Bayreuth im Hintergrund, die ebenfalls schon "Bauhaus-affin" waren, konnte man auf die Umsetzung jedenfalls gespannt sein.

 

 

Wie ging nun Bücker konkret an das Werk heran? Frank Castorf hatte in seinem aktuellen Bayreuther "Ring" das Öl an die Stelle des Edelmetalls gestellt, die Dessauer Lesart sieht die Information als wichtigstes aller Güter, die sich rasant vervielfacht und in Bildern und Zeichen Gestalt gewinnt. Die Mediengeschichte wird zum Inszenierungskonzept! Bereits im Rheingold bewachen die Rheintöchter einen Würfel (der an den berühmten Rubik's Cube aus den 1980iger Jahren erinnert) als ihren Schatz, der Bilder alter Meister in Videoeinspielungen an die Projektionsflächen wirft. Bereits zwei Szenen später sieht man Mime und seine Gefolgschaft, wie sie Vorlagen für Comic-Filme herstellen. Aber alles noch in analoger, herkömmlicher Machart: Zeichnungen, Gemälde, auch die Projektionen verwenden noch Scherenschnitte (übrigens sehr ästhetisch gestaltet). Und der an die Riesen zu übergebende Goldschatz erweist sich als vergoldete Filmrollen!

 

Die Macht liegt also in diesem "Ring" nicht im Gold oder bei den Rohstoffen, sondern in der Information. Aus heutiger Sicht ein nahe liegender logischer und nachvollziehbarer Gedanke, wie überhaupt die neuen Ideen, die in die Inszenierung eingebracht wurden, in sich und aus dem Libretto durchaus schlüssig bezeichnet werden können, wie die aktive Unterstützung Fafners durch Loge, als er Fasolt im Rheingold erschlägt. Und witzig sind sie auch noch. So etwa die komische Umsetzung der Donnerschläge im Finale des Vorabends. Oder die verzogene Sippschaft von Wotan und Fricka. Oder wenn Sieglinde den Trank für Siegmund - sprich Cola in der Aludose - mit einem lauten Plopp öffnet und später ihrem Mann bzw. ihrem Bruder das Essen aus einem Flugzeug-Trolleyschrank serviert. Oder wenn Brünnhildes erstes "Hotojo" ins altmodische Handy mit Ausziehantenne gerufen wird und für Lacher und Zwischenapplaus (!) sorgt. Oder wenn Hagens Leute in der Götterdämmerung mit ihren Schwertern (sprich Leuchtstofföhren) ein "Heil Gunther" darstellen. Noch selten habe ich einen "Ring" gesehen, bei dem es so viel zum Schmunzeln gab.

 

In der Walküre wechselt Bücker aus dem noch betulichen 19. Jahrhundert in die 1930iger Jahre. Davon merkt man allerdings zu Beginn nichts, denn Hundings Hütte ist ein kubisches Gestell (sieht wie ein etwas in die Jahre gekommener Datenraum aus), dominiert von einer eigenartigen Weltesche, nämlich einem durchschnittenen PC-Kabelstrang. Vor den kinematographischen Bildern von Fritz Langs "Nibelungen-Film" erzählt Siegmund seine Geschichte, Hunding lässt mit seiner Kampfgarde nie Zweifel darüber aufkommen, wer der Herr im Hause ist.

 

Im zweiten Akt wechselt die Handlung des Götterreiches dann in die Filmmetropole Hollywood: Wotan als Film-Tycoon, der die Regie an seine Tochter Brünnhilde abgibt. Logisch und schlüssig kippt die Handlung ab der Todesverkündigung in "Dreharbeiten" am Set. Die Technik nützt hier alle Blue Box-Möglichkeiten und die Ergebnisse des Kameramannes und seiner Videos sind sehr beeindruckend und harmonieren ideal zur Musik. Wie ja überhaupt Wagner auch immer schon unterstellt wurde, er habe "Filmmusik" komponiert. Hier erfolgte die Probe aufs Exempel und es passte. Am Ende dieser Kamerasequenz nimmt Wotan den Chip aus der Aufnahmekamera an sich, das Dokument mit allen Kampfhandlungen ist nun in seinem Gewahrsam. Macht durch Bilder, heute täglich in Nachrichtensendungen zu beobachten!

 

Einen Seitenhieb auf das "echte" Bayreuth konnte man sich auch nicht verkneifen, nämlich als Siegmund vor Mount Rushmore (bei dem Castorf in seiner aktuellen Inszenierung die vier Präsidentenköpfe durch die Ur-Kommunisten ersetzte) in Szene gesetzt wird.

 

 

Der Finalakt der Walküre schwankte zwischen zwei Extremen. Einerseits ein ausgeflippter Walkürenritt inkl. Koksparty sowie ein paar Matrosenjungs und die verzweifelte Sieglinde möchte sich dann gar mit dem aus Hollywood mitgenommen "Oscar" erstechen. Andererseits ein rührender Abschnitt Wotans, bei dem im Auditorium die Augen zu glänzen begannen, so eindringlich gestalteten die beiden ausgezeichneten Sängerschauspieler Paulsen und Derilova diese Szene. Sehenswert wie Wotan seine Lieblingswalküre eigenhändig auf den Felsen hebt – bei schwergewichtigeren Partnern als Frau Derilova würde dies sicherlich ein Problem darstellen.

 

Im Siegfried wird das analoge Mediengeschehen hinter sich gelassen und Jung-Siegfried ballert in seinem Videogame einen Bären weg. Fürchten braucht er sich ja in seinen Ego-Shooting-Adventure-Games nicht, eine Parallele zu seinem Wälsungenleben, wo er ja auch die Furcht nicht kennt. Mime bemüht sich zwar seinen Schützling zu verstehen und versuchte sich auch im Spiel, aber selbst mit einem uralten Tetris-Spiel kommt er nicht klar und erhält immer nur die Error-Meldung: "Get Highscore Sword". Aber das Schwert bleibt für ihn unerreichbar, das schafft Siegfried dann ganz easy im Schmiedelied, bei dem das Hämmern auf den Amboss durch das Klopfen auf die PC-Tastatur ersetzt wird (ein eher müder Gag)! Mittels einer auch schon antiquiert wirkenden CAD-Software erzeugt er das Werkstück dreidimensional auf der Leinwand, abholen muss er Nothung aber immer noch aus der Bühnengasse! Origineller wirkt da die Einblendung von vier Antwortmöglichkeiten bei der Wissenswette à la "Wer wird Millionär"! Aber insgesamt "verschenkte" man den ersten Akt etwas, da wäre mehr drin gewesen

 

Wieder aus dem Bauhausformenschatz stammen die dreieckigen Bühnenelemente des zweiten Aktes, der düster und dunkel durch realistisch bedrückende Waldeinspielungen gekennzeichnet wird. An diesem Punkt hängt der Zyklus aber erstmals ein wenig durch, die Personenführung wird nun eher konventionell und zum Thema Medien kommt Bücker erst wieder in Akt 3. Erdas Wissen erscheint projiziert im Bühnenhintergrund und wirkt antiquiert altmodisch. Wotan schickt sie gelangweilt in den Schlaf, um seinerseits aber zu erkennen, dass mit dem Durchschlagen seines Speers durch Siegfried ein totaler Computer-Error entsteht. "No Signal" – die bewegten Bilder sind weg.

 

Die künstlerische Moderne ergreift wieder Oberhand, die Formen werden klar, nüchtern und geometrisch. Als der Walkürenfelsen erscheint muss Siegfried aber erkennen, dass er seine Handlungsfreiheit ebenso verloren hat wie Brünnhilde. Beide können sich nur mehr wie abgehackt bewegen und wirken nur noch ferngesteuert. Aus dem realen Leben erfolgte der Übergang ins digitale Zeitalter, die Handlungsträger erfüllen nur noch Rollenfunktionen. Mein cineastisches Nichtwissen erschwerte mir die Interpretation ab diesem Zeitpunkt, so habe ich es nur dem Hinweis einer Wienerin in einem Pausengespräche zu verdanken, dass der folgende "Plot" viele Gemeinsamkeiten mit den Sci-Fi-Film Tron:Legacy aufweist. Wie sehr auch die Schauspielart der sogenannten Biomechanik des russischen Regisseurs Wsewolod Meyerhold (aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) gewollt war und der Idee der eigenartigen Körperbewegungen den Stempel aufdrücken sollte, blieb für mich offen.

 

 

Werk-Interpretationen, die sich nur über das Lesen des Programmheftes erschließen, stehe ich eigentlich meist skeptisch gegenüber, diesmal wirkte das Resultat aber trotz meiner laienhaften Herangehensweise – und diese hatte wahrscheinlich der größte Teil des Publikums – dennoch faszinierend. Allerdings muss man einem Teil des Auditoriums zugestehen, dass gerade Zitate aus der Computer- oder Filmwelt nicht so einfach zu durchschauen sind. Die Augen wurden mir diesbezüglich von einer Dame in einem Pausengespräch geöffnet, der nicht einmal das legendäre Tetris ein Begriff war.

 

In der Götterdämmerung setzte sich dann das Geschehen, das eigentlich nur noch im Computer auf der Festplatte in binärer Form stattfindet, munter fort. Störend fand ich lediglich die Tatsache, dass nicht alle Sänger die mechanischen, roboterhaften Bewegungen der Figuren aus Computerspielen (den Kostümen nach mit japanischer Provenienz) in der gleichen Intensität auslegten wie etwa Gunther und warum Alberich und Hagen auf diese gänzlich verzichteten (gewollt oder ungewollt?) erschloss sich mir auch nicht. Der Tremor der Handbewegungen von Gunther störte eine Vielzahl von Besuchern, bei mir weckte sie hingegen Assoziationen an einen flackernden Computerscreen. Und wie sehr die heutige Zeit von eben dieser binären Welt geprägt ist, erlebte man beim hässlichen Klingeln eines Handys im Zuschauerraum im 2. Akt! Das Finale blieb dann in eher konventionellem Rahmen: Nach allen ästhetisch hervorragenden Projektionen und perfekter Bühnenmaschinerie (sieht man von einem zu früh hochgehenden Vorhang beim Trauermarsch ab) erscheint am Ende ein Kind als Jung-Siegfried, der an die Bühnenkante vorgeht, während ein weißer Rundhorizont wiederum die gesamte Bühne einhüllt und die gleiche Ausgangssituation wie im Rheingold entstehen lässt.

 

Für die Bühnengestaltung zeichnete Jan Steigert verantwortlich und er brachte die Bauhaus-Ästhetik und –Formensprachen sehr gekonnt ein. Für Rheingold wählte er riesige Silhouetten, zweidimensional und verschachtelt angeordnet, weiß dominiert und die Projektionen und Farbregie sorgen für logische Effekte (etwa die blauen Pinselstriche auf dem unbefleckten weißen Papier zu Beginn, die schließlich den blauen Rhein ergeben). Wie sich die Götterfamilie dann von einem kubistischen Walhall begeistert zeigt und dieses auch körperlich in Besitz nimmt, unterscheidet sich doch grundlegend vom sonst üblichen Überschreiten der Brücke und integriert die Regenbogen durch Lichteffekte. Noch beeindruckender dominierte der Walkürenfelsen die folgenden Akte und die Gibichungenhalle nutzte die kompletten technischen Gegebenheiten der Bühne inkl. Hebebühne und Aufzüge.

 

Ein durchgehender Rundhorizont kommt an allen vier Abenden zum Einsatz und stellt eigentlich gemeinsam mit den massenhaft und liebevoll ausgewählten Videopassagen ein eigenes Regieelement dar. Die Projektionsflächen links, rechts und oben, die gemeinsam einen Bühnen-Guckkasten ergeben, werden für die Videos ideal genutzt. Das dafür verantwortliche Team (Frank Vetter und Michael Ott) leistete Schwerarbeit (das Programmheft nennt 7.200 Arbeitsstunden), um alle Nuancen ihrer Einspielungen beurteilen zu können, müsste man aber wahrscheinlich eine DVD-Aufzeichnung analysieren.

 

Für die erfreulich ästhetischen Kostüme sorgte Suse Tobisch, eine Augenweide, wie man sie heute nur noch ganz selten geboten bekommt. Keusches Weiß dominiert im Rheingold, angesiedelt etwa Ende des 19. Jahrhunderts. In der Walküre kommt mehr Farbe dazu, aber zeitlich nicht so ganz zuzuordnen: Teilweise die 1930iger Jahre Hollywoods zitierend, dann aber wieder ausgeflippt heutig (besonders gelungen in den schrillen Walküren-Outfits). Liebevoll und detailverspielt die Gewänder bei Fafner, dem Waldvogel und Erda. Ganz großes Kino – in wahrsten Sinn des Wortes – schuf Tobisch mit den japanischen Kampfkleidern in der Götterdämmerung. Aber auch bei den Kostümen stellt sich natürlich die Frage, ob Otto Normalverbraucher (und der Rezensent schließt sich da gerne an) nicht das eine oder andere Mal überfordert ist, um alle film- oder theaterhistorischen Bezüge erkennen und deuten zu können.

 

Kommen wir zum Musikalischen. Hier gab es für mich die eigentliche Überraschung. Ich muss gestehen GMD Antony Hermus vorher nicht gekannt zu haben, was der Niederländer aber mit der Anhaltischen Philharmonie Dessau hier an Klängen hervorzauberte, das war wunderschön und hatte hohes Niveau. Natürlich gab es bei diesem Monsteropus einzelne Holprigkeiten, aber insgesamt stimmte der "Sound" im wahrsten Sinn des Wortes. Immer stärker wird meine Überzeugung, dass Wagner gerade in "kleineren" Häuser imponierender wirken als an Met, Scala oder einer – wo immer befindlichen - Staatsoper. Und alleine die körperliche Leistung der Aktiven (ein Schichtplan oder ähnliches kam ja kapazitätsbedingt nicht in Frage) nötigte Respekt ab. Erleichterndes Detail: Für gewissen Instrumentengruppen standen in der Pause Masseure zur Verfügung! Dennoch war bei der finalen Götterdämmerung eine leichte Überforderung zu spüren: Die bis dahin perfekten Hornrufe misslangen ebenso wie auch bei den Trompeten Einbußen an Konzentration spürbar wurden.

 

Dass ein Haus wie Dessau für einen kompletten "Ring" vier Hauptpartien aus dem aktuellen Ensemble (das gerade einmal acht Sänger umfasst) besetzen kann, erstaunte nicht wenig. Und diese waren auch die großen Pluspunkte in jeder Hinsicht, denn sie mussten über diese Rollen hinaus auch noch kleinere Partien mit übernehmen. Ulf Paulsen, der vor der Walküre zum Kammersänger ernannt wurde, stellte einen Wotan mit allen Schwächen und - trotz seiner Göttergestalt - menschlichen Regungen und Schwächen dar. Sein hell timbrierter Bariton passte ideal dazu, vielleicht wäre hie und da ein stärkeres Zurücknehmen angesagt gewesen, aber wer will schon mäkeln über diesen begnadeten Charakterzeichner. Jedes Detail, jedes Kopfschütteln und jede Mimik passten zu 100 %. Dass er am vierten Tag noch als Gunther ran musste, grenzte fast schon an künstlerische Ausbeutung. Ähnlich triumphal war die Zustimmung des Publikums für Rita Kapfhammer, die sage und schreibe fünf Partien absolvierte: Fricka an den ersten zwei Tagen, dann die Siegfried-Erda und schließlich noch Waltraute (mit der sie einen Meilenstein setzte), erste Norn und Floßhilde: Chapeau! Denn mit welcher Wortdeutlichkeit und frischer Stimme sie sich durch die Serie sang, das verlangte nicht nur Anerkennung, sondern machte dem Zuhörer auch akustisch die reinste Freude. Manch großes Haus könnte sich glücklich schätzen über so eine Mezzosopranistin zu verfügen. Angelina Ruzzafante (als Freia, Sieglinde, Stimme des Waldvogels und Gutrune zu hören) hatte ihren stärksten Auftritt natürlich in der Walküre, in der sie eine sinnliche Sieglinde sang. Sehr berührend, wobei aber alle Anstrengungen ihrem Äußeren nicht anzumerken sind. Schließlich ist auch noch die am Haus so bewährte Iordanka Derilova zu erwähnen, die dreimal als Brünnhilde auf der Bühne stand. Ihre Mittellage klang zwar anfangs immer etwas flackrig, sie punktet aber in weiterer Folge mit toller Höhe und darstellerisch gelang ihr eine sehr berührende Rollengestaltung. Ein so lyrisches "Starke Scheite schichtet mir dort" hört man übrigens auch nur selten!

 

 

Von den Gästen wären in erster Linie die beiden Heldentenöre zu erwähnen. Als Siegmund verfügt Robert Künzli über eine sehr abgedunkelte Mittellage, die ich als "Kaufmann-like" bezeichnen würde und die nicht unbedingt jedermanns Sache war. Aber ab den Wälserufen hatte er sich freigesungen und Höhenangst brauchte man bei ihm nie haben. Die Buh-Rufe beim Schlussvorhang waren gänzlich unberechtigt, verstummten aber sofort, als der Sänger gestenreich kundtat, was er davon hielt. Sehr tapfer schlug sich Jürgen Müller als Siegfried, auch wenn der eine oder andere Spitzenton nicht ganz saß, mit tollem Einsatz hielt er beide Abende souverän durch.

 

Bunt durcheinander ging es bei den Besetzungen der übrigen Partien, die Qualitätsabstufungen waren natürlich erkennbar, taten aber grosso modo nichts zur Sache. Versuchen wir es einmal so: Albrecht Kludszuweit waren die Partien des Loge und des Siegfried-Mime anvertraut, in beiden Fällen gelang ihm eine ideale Kombination zwischen dem geforderten parlando und seiner imposanten Tenorstimme, der Jubel über seine Leistung war hochverdient. Die tiefen Basspartien befanden sich bei Stephan Klemm sowie Dirk Aleschus in besten Händen. Dem eher heller timbrierten Klemm gelang es einen schwerverliebten Rheingold-Riesen Fasolt als auch die furchteinflößenden Negativ-Charaktere Hunding entsprechend glaubwürdig darzustellen, beim Hagen fehlte aber das Bedrohliche, der wirkte eher nachdenklich und zögernd. Die kernige Tiefe und die körperliche Statur des Zwei-Meter-Mannes Aleschus waren Garantie genug für einen mehr als soliden Fafner, bei seinem "Lasst mich schlafen" blitzte auch sein immer präsenter Humor durch.

 

Ohne im einzelnen auf die restlichen Sänger singulär einzugehen verdienen sie ein Pauschallob: Stefan Adam (als Alberich in Rheingold und Siegfried lagen sein Stärken in der darstellerischen Leistung), Nico Wouterse (ein tiefschwarzer bedrohlicher Alberich in der Götterdämmerung), Javid Samadov (als witziger Donner), der am Haus beschäftigte David Ameln (als leichtgewichtiger Froh), Ivan Turšić (ein unauffälliger Mime in Rheingold) und Anja Schlosser (eine jugendliche Erda in Rheingold).

 

Bleiben noch die übrigen Walkürenpartien zu erwähnen, wobei mir der Blick ins Programm die Augen weit öffnete: Denn lediglich zwei Gastsängerinnen (Einat Ziv als Helmwige und Gwendolyn Reid Kuhlmann als Grimgerde) mussten extern angefordert werden, die anderen Protagonistinnen kamen aus den eigenen Reihen: Cornelia Marschall (Ortlinde sowie Woglinde und dritte Norn) und – man höre und staune – die fünf Choristinnen (!) Gerit Hammer (Gerhilde), Anne Weinkauf (Waltraute sowie Floßhilde und zweite Norn), Kristina Baran (Siegrune), Jagna Rotkiewicz (Roßweiße und Wellgunde) und Constanze Wilhelm (Schwertleite) machten ihre solistischen Auftritte mehr als tadellos. Die leistungsmäßige Bandbreite musste bei so einer Zusammensetzung natürlich größer als sonst üblich ausfallen. Der grundsolide Opernchor des Anhaltischen Theaters wurde unterstützt vom Chor Coruso und einstudiert von Helmut Sonne.

 

Die 16 Minuten Schlussapplaus verteilte sich ziemliche gleichmäßig auf das gesamte Ensemble, auch das Leading Team stellte sich dem Publikum, bis auf ein schüchternes Buh (offensichtlich für die Regie) gab es aber auch da nur (verdienten) Jubel. Insgesamt also ein kräftiges Lebenszeichen des Anhaltischen Theaters und ein verdienter Erfolg seines Intendanten Andre Bücker und seines Teams. Wie sehr die einzelnen Wagner-Gesellschaften, die nach Dessau gekommen waren, meine Einstellung teilen entzieht sich leider meiner Kenntnis.

 

Ernst Kopica 18.5.15

 

Copyright: Anhaltisches Theater Dessau / Claudia Heysel