Haribo fürs Hexenhaus
Am Theater Dessau hat die Oper „Hänsel und Gretel“ Premiere
Musikalisch ist Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ so eine Art Wagner für die Opernvorschule. Stellenweise sogar zum Mitsingen. „Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh?“ Oder „Brüderchen, komm tanz mit mir!“ Und auch das Männlein, das im Walde steht, kommt vor.
Bleibt die Grimm-Vorlage, die es in sich hat. Schieben doch die lieben Kleinen eine alte Frau in den gut geheizten Ofen, worin sie bei lebendigem Leibe verbrennt.
Als Jacob und Wilhelm Grimm ihre Märchen sammelten, waren politische Korrektheit und Freigabe-Alter noch nicht erfunden. Sonst gäbe es diese Reisen in die Abgründe der menschlichen Seele kaum. Abgesehen davon, dass man mittlerweile weiß, dass Kinder zwischen Märchen und Wirklichkeit zu unterscheiden wissen, muss sich vor der Dessauer Neuinszenierung, die der Intendant Johannes Weigand selbst besorgt hat, niemand Sorgen zu machen. Man müsste sich höchsten auf die Frage von besonders hellen Sprösslingen einstellen, wieso den die Hexe wie ein Mann aussieht. Das ist leicht zu beantworten: es ist einer. Warum der aber so angezogen ist, wie die Königin von England, das ist nicht so leicht zu beantworten.
Ansonsten ist das Ganze bei Ausstatter Markus Pysall so klinisch rein: mit einem alten Zirkuswagen für die Besenbinder, ein paar Kulissenbaumstämmen und aif den Gaze-Vorhang projizierten Beeren. Und einem Knusperhexen-Baumhaus, offensichtlich von Haribo gesponsert ist.
Der Sandmann kommt mit modernem Gefährt (fehlen nur Bart und Zipfelmütze), die Engel im Blaumann, aber mit Flügeln. Das ist alles so brav und weichgespült – bis zum Parodieverdacht. Nehmen wir aber zugunsten aller Beteiligten einfach an, dass es als die gute alte Einstiegsdroge gedacht ist, über die man nicht weiter nachzudenken braucht. Ob das heutzutage reicht, um opernsüchtig zu machen?
Musikalisch allerdings hat sie das Potential dazu.
Denn hier wird ein Ensemble aufgeboten, das man selbst an größeren Häusern nicht besser hätte zusammenstellen können! Ein so betörend schön und klar singendes Geschwisterpaar wie Rita Kapfhammer als Hänsel und Cornelia Marschall als Gretel gehört zu den vokalen Glücksfällen im Opernjahr. Obendrein spielen die Beiden das auch noch leichtfüßig.
Dazu die prachtvolle Hexe von Albrecht Kludszuweit: Der sieht, wenn er die noble Garderobe ablegt, wirklich wie eine Hexe aus, singt aber durchweg königlich. Dass man mit Ulf Paulsen (Vater) und Iordanka Derilova (Mutter) die dramatischen Wagner-Recken des Hauses aufbietet, vollendet diesen beglückenden musikalischen Wachtraum. Natürlich ist auch der Kinderchor mit Eifer dabei. Und die Anhaltische Philharmonie schwelgt unter Wolfgang Kluge durchweg in dem, was ihnen der Wagner-Adlatus Humperdinck hier auf die Notenpulte gezaubert hat. Wenn das nichts ist!
Joachim Lange, Mitteldeutsche Zeitung, 07.11.2016